Thomas Schmidt

Stockenten: Tierische Großstadtprobleme
Dichtestreß, Männerüberschuß, Vergewaltigungen
und Fehlfarben – die Stockenten wurden zu Stadtenten

»Die Stockente ist in den letzten Jahrzehnten vielerorts zur Stadtente geworden,« stellt Dr. Heinrich Hoerschelmann, Kustos am Zoologischen Institut der Universität Hamburg fest. Er befaßte sich mit einer Stockentenpopulation im Hamburger Stadtpark. 1913 brütete nur ein einziges Paar in der Hansestadt. Heute bevölkern nach Schätzungen des Naturschutzamtes 15000 bis 20000 dieser Vögel die großstädtischen Wasserflächen. »Das ist auch auf die übermäßige Fütterung durch ‚tierliebende' Menschen zurückzuführen,« sagt Günther Helm, Leiter der staatlichen Vogelschutzwarte in Hamburg.

Ob auf der Hamburger Binnenalster oder im Münchner Englischen Garten – es gibt zu viele Enten. Angelockt durch reichliche Futtergaben, drängen sich selbst auf kleinen Teichen oft 60 bis 80 Vögel. Eutrophierung durch erhöhten Nährstoffeintrag und Entenkot sind eine Folge. Weitere Folge: Wegen fehlender Nistplätze erschließen sich die Enten neue Niststandorte. Weil sie weitgehend ihre natürliche Scheu vor dem Menschen verloren haben, sind brütende Vögel in Einkaufszentren und auf Schulhöfen keine Seltenheit. Manchmal bauen sie ihre Nester sogar auf Hochhäusern oder in Kirchtürmen.

Dichtestreß auf den städtischen Gewässern ist auch für die Zunahme aggressiver Verhaltensweisen der Erpel mitverantwortlich. Immer häufiger sind Szenen wie diese zu beobachten: Unverpaarte Erpel verjagen einen »glücklich verheirateten« Stockentenmann und vergewaltigen anschließend das Weibchen. Der Ornithologe Einhard Bezzel befaßt sich in seinem Buch »Paschas, Paare, Partnerschaften« mit dieser Verhaltensstrategie, stellt aber auch fest, daß sie nicht neu ist. Schon 1600 schrieb der Zürcher Naturforscher Conrad Gesner: »Wann der Enten viel beieinander sind, so werden sie also hitzig, daß sie das Weiblein, indem einer nach dem anderen auffsitzed, ertödten.« Dies rüde Sexualverhalten weicht deutlich von der üblichen Monogamie der Stockenten ab. In den Städten ist es häufiger zu beobachten als in der freien Natur.

Hoerschelmanns Hamburger Untersuchung ergab, daß die Erpel 60 bis 70 Prozent des Stockentenbestandes ausmachen. Manch ein Erpel, der um die Aufmerksamkeit eines Weibchens buhlt, hat das Nachsehen. Auch das ist ein Grund für die Zunahme von Vergewaltigungen. Hoerschelmann:

»Entscheidender Faktor bei der Verschiebung des Geschlechterverhältnisses sind die überzähligen Erpel selbst.« Brütende und jungenführende Enten werden durch Vergewaltigungen geschwächt oder sogar umgebracht. Der britische Forscher Julian Huxley stellte bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts fest: 7 bis 10 Prozent der Weibchen sterben durch erzwungene Begattungen.

Folge des Männerüberschusses ist auch eine Zunahme ungewöhnlicher Paarverhältnisse. Nicht selten kann man »Trios« von einer Ente und zwei Erpeln oder auch »Herrenclubs« mit homosexuellem Verhalten beobachten. Bei freilebenden Gänsen gibt es ein ähnliches Problem, das allerdings von den Gantern stets gewaltfrei gelöst wird: Sie nehmen sich einen männlichen Partner, und die liebe Seele hat Ruh. Als monogame Tiere bleiben die Ganter einander ebenso treu wie einer Gans.

Stockenten in der Stadt sind oft ungewöhnlich groß und bunt und haben dann mit der Wildform nur noch einige Federzeichnungen gemein. Es kommen sogar völlig weiße und schwarze Exemplare vor. Diese Fehlfarben weisen außer auf natürliche genetische Veränderungen (Mutationen) auch auf die vielfach gestörten Biotopverhältnisse in unseren Gewässern. Dabei spielen Kreuzungen mit Hausenten oder von Jägern ausgesetzten Hochbrut-Flugenten eine Rolle. Die Färbungsvielfalt der Stadtenten weist allerdings das gesamte Farbspektrum der 30 bis 40 Hausentenrassen auf, was eher mit Umstellungen im Stoffwechsel zu erklären ist, wie sie bei Domestikationsprozessen auftritt.

Für das Gesamtgebiet Hamburg ermittelte die staatliche Vogelschutzwarte ein deutliches Gefälle der Fehlfärbung von der Innenstadt (13 Prozent) zur freien Elbe (0,7 Prozent). Die bunte Vielfalt in der City erklärt sich teils aus der geringeren Zahl natürlicher Feinde, teils aus der geballten Wirkung extremer Lebensbedingungen.

»Die verstädterten Stockenten sind inzwischen als eine weitgehend eigenständige Form anzusehen,« schreibt Hoerschelmann. Sie haben sich gut an den Extremlebensraum Stadt angepaßt. Das zeigt sich auch darin, daß sie ganztägig auf den Stadtgewässern bleiben und ihren Tagesrhythmus nach dem wechselnden Besucherstrom ausrichten. In der freien Natur gehen Stockenten in der Dämmerung oder nachts auf Nahrungssuche.

Dennoch nimmt der Stockentenbestand nicht grenzenlos zu. Hohe Jungensterblichkeit begrenzt das Populationswachstum. Ursachen sind dicht besetzte Wasserflächen und häufige Vergewaltigungen. Die Küken verlieren den Kontakt zum Muttertier, verirren sich und verhungern. Harald Nies, als »Schwanenvater« für Hamburgs Wassergeflügel zuständig, stellt sogar fest, daß die Bestandszahlen seit 1993 leicht rückläufig sind. Als Ursache nennt er hohe Verluste durch Botulismus in eutrophierten Gewässern.

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